Ein Gastbeitrag von Uwe Kress (sensiblehelden.de)
Mir stockte der Atem, als ich ins Wohnzimmer kam. Es sah wüst aus.
Ein Stuhl war umgeworfen, auf dem Tisch stand eine Cola-Pfütze und der Fußboden klebte. Doch die Krönung waren die Reste von rohen Eiern, die an der Wand hingen.
Dies war der Aufenthaltsraum von zwölf jungen Leuten. Als Gruppenerzieher hatte ich ein gutes Verhältnis mit den Bewohnern. Ich hatte mich bemüht, die gemeinsamen Räume gemütlich zu gestalten. Sie sollten sich hier ein wenig zu Hause fühlen. Keiner von ihnen hatte es leicht im Leben.
Sensibilität, Verständnis und Einfühlungsvermögen - das waren meine persönlichen Stärken und mein pädagogisches Konzept. Jetzt stand ich da und kaute auf meinen Lippen. Ich fühlte mich enttäuscht und verraten. Und ich fragte mich, ob ich für diesen Beruf überhaupt geeignet sei.
Hochsensible Menschen zweifeln häufiger an sich selber und stellen die eigenen Fähigkeiten in Frage. Das ist ein Teil ihrer Wesenszüge.
Kennst du das?
In diesem Artikel möchte ich dir praktische Übungen vorstellen, die dir helfen, dein Selbstvertrauen zu stärken und Selbstzweifel zu überwinden.
1. Deine besonderen Fähigkeiten erkennen
Eine der größten Herausforderungen für hochsensible Menschen ist es, dass wir unsere Stärken, Fähigkeiten und Begabungen überhaupt erkennen. Denn aus unserer Sicht sind diese Eigenschaften ja ganz selbstverständlich.
Hier ein paar Beispiele:
Solche Eigenschaften liegen in unserer Natur. Doch die meisten Menschen können das nicht so gut. Also sind es tatsächlich besondere Begabungen!
Mein erster Tipp lautet daher:
Nimm dir Zeit, um dir bewusst zu machen, was du besonders gut kannst und was dich auszeichnet!
Übungen:
Stärken-Tagebuch: Führe ein Tagebuch und schreibe jeden Abend drei Dinge auf, die dir an diesem Tag gut gelungen sind. Notiere dir, welche Fähigkeiten du dabei eingesetzt hast. Kauf dir dafür vielleicht ein schönes, gebundenes Buch und einen besonderen Stift, oder nimm einen Notiz- App auf deinem Handy.
Feedback einholen: Frage Freunde, Kollegen und Familienmitglieder, welche Stärken und Talente, sie in dir sehen und was sie an dir schätzen. Andere erkennen häufig Verhaltensweisen und Eigenschaften in uns, die wir selbst gar nicht wahrnehmen. Der Wert, den du für andere darstellst, und der Wert, den du in dir selber fühlst, sind dennoch nicht dasselbe. Wie du sie besser unterscheiden kannst, wird hier genauer erklärt: Erkenne deinen Wert und stärke ihn!
2. Ein positives Selbstbild entwickeln
Ich stand im Bad und holte Luft. War auch niemand in der Nähe? Gut, dann los! „Ich bin gut! Ich schaffe das!“ sagte ich laut zu meinem Spiegelbild. Es kostete Überwindung und ich kam mir albern vor. Und stimmte das überhaupt?
Meine Worte fühlten sich hohl an. Ich begann, mir die Haare zu kämmen und mir ging durch den Kopf, dass ich sehr wohl öfters zu mir selber so etwas sagte, wie "Oh wie dumm, ich bin so blöd!", wenn ich zum Beispiel etwas vergessen hatte.
Leider haben wir viel Gedankenmüll eingesammelt, mit dem wir uns selber schlecht machen. Überleg einmal, wie oft du schon abwertende Sätze gehört hast wie:
Solche Aussagen können Selbstwertgefühl und Selbstwahrnehmung stark beeinflussen und zu dauerhaften Unsicherheiten führen, besonders, wenn sie zu Kindern gesagt werden.
Versuche, dich nicht ständig selber zu kritisieren. Affirmationen können dich dabei unterstützen, dein Selbstbild zu stärken.
Unsere Schwächen, Ängste und Unsicherheiten dürfen wir dabei jedoch nicht leugnen. An der Auflösung innerer Verletzungen müssen wir allerdings dennoch weiterarbeiten. Realistische Selbsterkenntnis und die Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Schwächen, Ängste und Unsicherheiten sind entscheidende Schritte auf dem Weg zu echtem Wachstum und dauerhaftem Wohlbefinden.
Durch die ehrliche Auseinandersetzung mit uns selbst und unseren Lebensumständen können wir eine gesunde Balance zwischen positivem Denken und realistischer Selbstreflexion finden.
Lies dazu auch mal dazu Grits Blogartikel über das Auflösen von Glaubenssätzen.
Übungen:
Affirmationsliste: Affirmationen sind kurze, kraftvolle Sätze, die du dir selbst immer wieder sagst, um dich daran zu orientieren. Erstelle eine Liste mit solchen Sätzen, die zu dir und deinen Zielen passen. Zum Beispiel: „Ich bin gut, so wie ich bin, und ich kann noch besser werden.“ oder „Ich vertraue auf meine Fähigkeiten.“
Tägliches Ritual: Wiederhole diese Affirmationen jeden Tag. Spüre in dich hinein, was dabei passiert. Fällt es dir schwer, positive Dinge über dich zu sagen? Spürst du Widerstand oder Zweifel in dir? Gehe dem nach, aber bleibe trotzdem bei der Übung!
3. Kleine Erfolge feiern
Der Duft von frischem Kaffee durchzog die Küche. Verena gönnte sich diesen Moment der Ruhe in dem kleinen Aufenthaltsraum.
Ihre Aufgabe war kniffelig gewesen. Nun schien das kleine Häkchen auf ihrer To-do-Liste geradezu zu leuchten. Ihr Blick ging aus dem Fenster und in die Ferne. Sie genoss das gute Gefühl, während sie überlegte, ob sie heute Abend mal in die Stadt gehen wollte.
Wir übersehen oft die kleinen Erfolge, die wir jeden Tag erzielen. Dabei tragen sie viel zu unserem Selbstvertrauen bei. Schließlich sind sie auch Beweise für unsere Stärken, für das, was wir können und hinkriegen!
Übung:
Schreib es auf: Auch hierzu kannst du prima ein Tagebuch nutzen und dir dabei deine kleinen Alltagserfolge nochmal in Erinnerung rufen. Notiere dir, welche Aufgabe du gut gemeistert hast, welches freundliche Gespräch du geführt oder welche Herausforderung du überwunden hast. Eine ausführliche Anleitung findest du dazu auch unter Erfolgstagebuch.
Belohne dich: Gönne dir etwas, wenn du ein Ziel erreicht oder eine Aufgabe bestanden hast. Womit könntest du dich belohnen? Ist es vielleicht ein entspannendes Bad, ein schöner Spaziergang oder ein leckeres Essen?
4. Selbstfürsorge praktizieren
Jonathan richtete den Wasserstrahl auf die Hortensien, als Elena aus dem Nachbarhaus herüber kam. „Könntest du morgen auf meine Katze aufpassen? Ich muss kurzfristig weg,“ fragte sie.
Jonathan war immer sehr hilfsbereit und normalerweise hätte er sofort zugestimmt, doch dieses Mal zögerte er. Sein Tag morgen war schon komplett verplant.
Er dachte nach und antwortete schließlich: „Ich kann das leider nicht einrichten, morgen. Vielleicht findest du jemand anderen, der helfen kann.“ Elena wirkte enttäuscht, bedankte sich aber trotzdem.
Hinterher überlegte er, ob er ihr nicht doch noch eine Lösung anbieten könnte.
Hochsensible sind häufig sehr auf die Bedürfnisse anderer Menschen fokussiert. Es fällt ihnen schwer, eine Bitte abzulehnen und Nein zu sagen. Sogar dann, wenn sie selber schon am Anschlag sind. Sie stellen sich selbst hintenan und nehmen die anderen wichtiger.
Oft genug kennen sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse gar nicht richtig. Das kann sie leicht in Stress bringen. Dabei sind die Stressfaktoren durch ihre ungefilterte Wahrnehmung ohnehin schon höher.
Um deine Leistungsfähigkeit und deine Gesundheit zu erhalten, ist es entscheidend, dich unbedingt selbst zu stärken und zu schützen. Achte darauf, dass du dir regelmäßig Zeit für dich nimmst und genau hinschaust, was du brauchst und was dir gut tut oder was eben auch nicht gut für dich ist.
Auch wenn du in deiner Lebenssituation sehr eingebunden bist, ist doch vieles möglich.
Selbstfürsorge ist nicht schwer! Das können so einfache Dinge sein wie Zeit mit Freunden und lieben Menschen verbringen. Auch körperliche Bewegung oder Entspannungsmeditation sind fast immer machbar und tragen viel zu deiner inneren Stärke bei.
Übung:
Selbstfürsorge-Plan: Erstelle einen wöchentlichen Plan, in dem du feste Zeiten für Aktivitäten einträgst, die deiner Selbstfürsorge dienen. Wie wäre es mit Meditation oder Yoga? Oder ist es für dich eher ein Spaziergang in der Natur oder auch ein gemütlicher Abend mit einem guten Buch?
Grenzen setzen: Lerne, Nein zu sagen und Grenzen zu setzen, um dich vor Überforderung zu schützen. Übe, freundlich aber bestimmt zu kommunizieren, was du brauchst und was dir guttut. Für manche ist dies eine ausgesprochen schwere Übung, aber sie ist so wichtig!
Es gibt hier auch einen ganzen Artikel mit weiteren Ideen und Beispiele, wie du besser für dich selber sorgen kannst.
5. Visualisierungstechniken anwenden
Völlige Stille. Die Atmosphäre knisterte von gespannter Aufmerksamkeit.
Ganz allein stand ich auf der Bühne. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Ich war der Zauberer. Und ich ging ganz in meiner Rolle auf. Vergaß mein Lampenfieber und konzentrierte mich nur noch auf das, was ich sagte und tat.
Vor meinen Auftritten plante ich immer alles genau durch. Den Programmablauf mit seinen Überraschungen, Wundern und Gags. Und wie die Zuschauer reagieren würden und was ich zu tun und zu sagen hatte.
Ich schloss dabei die Augen und stellte mir vor, wie ich auf der Bühne stand. Sah die Gesichter der Zuschauer voller Neugier und Staunen. Ich visualisierte, wie souverän ich auftrat. Wie ich mit tragendem Klang leicht und mühelos sprach. Wie ich die Menschen mit Gesten und Blicken in meine Welt hineinzog.
Visualisierungstechniken können dir helfen, dich mental auf Erfolg einzustellen und dein Selbstvertrauen zu stärken.
Eine hervorragende Anleitung zu dieser Technik findest du in diesem Beitrag: Mentaltraining.
Übung:
Erfolg visualisieren: Nimm dir jeden Tag ein paar Minuten Zeit, um dir vorzustellen, wie du eine Herausforderung erfolgreich meisterst. Stelle dir lebhaft vor, wie du selbstsicher und kompetent handelst und das gewünschte Ergebnis erreichst. Mit dieser effektiven Methode der Erfolgsvisualisierung erreichen auch Spitzensportler ihre Bestleistungen!
Einen Kraftort visualisieren: Schließe die Augen und stelle dir einen Ort vor, an dem du dich besonders stark und sicher fühlst. An diesem Ort bist du ganz bei dir selber. Es gibt auch geführte Meditationen, die du dafür benutzen kannst, zum
Beispiel diese hypnotische Tiefenentspannung. Besuche diesen Ort in deiner Vorstellung, wann immer du Entspannung und eine Stärkung deines Selbstvertrauens benötigst.
6. Unterstützung suchen
Es war spät am Abend. Wir hatten uns gestritten.
Ich fühlte mich ausgebrannt und meine Gefühle waren durcheinander. Ich wählte die Nummer von Errieta. „Hast du einen Moment? Ich brauche jemanden zum Reden,“ sagte ich leise. Ihre beruhigende Stimme und ihre einfühlsame Reaktion gaben mir das Gefühl, nicht allein zu sein.
Das tat mir so gut.
Ich nehme nicht leicht Hilfe in Anspruch. Ich gehöre zu denen, die meinen, alles allein hinzukriegen. Aber manchmal braucht man einfach Unterstützung von anderen.
Wie ist es bei dir? Wen hast du zum Reden? Überleg dir, ob Freunde, Familie oder auch professionelle Hilfe für dich in Frage kommen.
Übung:
Austausch mit Gleichgesinnten: Suche den Austausch mit anderen hochsensiblen Menschen, die ähnliche Herausforderungen kennen. Du findest sie zum Beispiel in Selbsthilfegruppen in deiner Stadt oder in Online-Communities.
Coaching oder Therapie: Ein Coach oder Therapeut kann dir gezielt helfen, an deinem Selbstvertrauen zu arbeiten und Strategien zu entwickeln, um Selbstzweifel zu überwinden. Frage auf jeden Fall nach, ob er oder sie sich mit Hochsensibilität auskennt! Das ist eine wichtige Voraussetzung, um angemessen auf dich eingehen zu können.
7. Fazit - Selbstvertrauen stärken für Hochsensible
Stell dir vor, du sitzt mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Balkon und beobachtest die untergehende Sonne.
Du hast viele kleine Schritte unternommen, um dein Selbstvertrauen zu stärken. Wolltest mutig sein und bist auch mal wieder zurückgeschreckt. Hast dich neu motiviert und kleine und vielleicht auch schon größere Erfolge erzielt. Im Rückblick stellst du fest, dass es dann meistens gar nicht so schlimm war, wie du vorher gedacht hast.
Und ja, es kommt auch immer wieder vor, dass du zögerst oder ausweichst und dass du dich fragst, ob du überhaupt das Richtige tust. In diesem Moment wird dir klar: Dich selbst zu hinterfragen ist tatsächlich ein Teil deiner hochsensiblen Natur.
Du weißt jetzt aber, dass du Ängste und Unsicherheiten überwinden kannst. Und wie sich das anfühlt. Dein Vertrauen in dich selbst und in deine Fähigkeiten ist so sehr gewachsen. Du kommst immer mehr zu deiner wahren inneren Stärke.
Und dann zeigt sich möglicherweise, dass du im Grunde genommen auch vorher schon auf diesem Weg unterwegs warst. Dass die Umwege, die du gegangen bist, die Zeiten des Stockens, in denen scheinbar nichts passiert ist, dass das alles vielleicht der Vorbereitung diente für deinen nächsten Entwicklungsschritt im Leben...
Wenn du diesen Artikel gelesen hast, lieber Leser, liebe Leserin, dann stehst du vielleicht gerade jetzt genau an diesem Punkt. Und du spürst, dass in dir etwas darauf wartet, dass du weiter gehst. Wenn das so ist, dann findest du hier viele Ideen und Anregungen dazu!
Von Herzen alles Gute auf diesem Weg wünscht dir
Uwe
von SensibleHelden.de